Was ist Stadtforschung und was hat sie eigentlich mit dem Hafen zu tun?
Der ethnografische Blick erlaubt es im Alltäglichen das Besondere zu entdecken, wahrzunehmen, zu verfremden und dadurch ins Verhältnis zu anderen Phänomenen zu setzen. Die Stadt, sowohl als Ort der Verdichtung, als auch in ihrer Beziehung zum Hinterland, ist wie ein Brennglas für diesen Prozess. Wir nutzen Stadt als Ausgangspunkt und Analysekategorie für unsere ethnografischen Forschungen. Der Hamburger Hafen ist unleugbarer Teil dieser Stadt und mit seiner Selbstverständlichkeit ebenfalls ein beachtenswertes Phänomen um vielfältige Prozesse zu verstehen.
Was aber genau ist am Hafen für Stadtforschung relevant?
Die Entwicklungen der Hafenstädte der Welt sind unterschiedlich und lassen sich dennoch häufig vergleichen, denn Hafenstädte sind Knotenpunkte, an denen sich globale, technische und wirtschaftliche Transformationsprozesse an konkreten Orten nachvollziehen lassen (vgl. Kokot 2008: 16f.).
Der Hafen hat stetig einen zentralen Einfluss auf die räumliche Struktur einer Stadt. Die Siedlungsstrukturen von Hafenstädten orientieren sich häufig an den historischen Standorten der Häfen, die bis in das 19. Jahrhundert oftmals in den städtischen Kern integriert waren. Mit der einsetzenden Industrialisierung ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wandelten sich Häfen zu wichtigen logistischen Knotenpunkten und die Städte wuchsen mit ihren Häfen. Einen radikalen Wandel bedeutete die Umstellung auf den Containertransport in den 1960er Jahren, die durch ihren Flächenbedarf zur Erschließung neuer Gebiete außerhalb der Stadtkerne führte. Moderne Seehäfen entstanden und verlagerten sich aus der Stadt. Die alten Hafengebiete wurden stillgelegt und zu Brachflächen (vgl. ebd.: 8f.).
Bis heute dauert die Phase der Revitalisierung der ehemals innenstadtnahen Hafengebiete an. Die Neugestaltung und Umnutzung dieser Gebiete ist ein globales städtisches Phänomen, das sich auch in Hamburg mit dem Bau der HafenCity zeigt (vgl. ebd.: 8). Auch der Kleine Grasbrook, auf dem zukünftig das Deutsche Hafenmuseum verortet sein wird, ist ein ehemaliges Hafengebiet und wurde erst mit der Weiterverlagerung des Hamburger Hafens ins Hinterland zu einem Revitalisierungsgebiet.
Der Hafen hat nicht nur Einfluss auf die ökonomische Position einer Hafenstadt, sondern auch auf ihre räumlichen und soziokulturellen Strukturen (vgl. ebd.: 14f.). Somit wirkt der Hafen mit einer Vielzahl von Akteur*innen tief in die Gesellschaft einer Stadt hinein. Hafenstädte sind Knotenpunkte der Migration und waren historisch wichtige Akteure im Kolonialismus. Viele Denkmäler und Straßennamen weisen bis heute häufig unkommentiert darauf hin (vgl. Eckardt/Hoerning 2012: 274f.). Der Hafen erzeugt zudem ganz unterschiedliche Narrative, wie beispielsweise die romantisierte Vorstellung des Seehandels in ferne Länder, das Narrativ der Hafenstadt als verruchter und gefährlicher Ort oder als idyllische Kulisse auf Postkarten (vgl. Kokot 2008: 10). Die Imaginationen rund um den Hafen können aber auch gleichzeitig Teil der Imagepolitik einer Stadt sein, die im globalen Städtewettbewerb um Unternehmensansiedlungen und Tourist*innen wirbt (vgl. ebd.: 13). Besonders zeigt sich das in den architektonisch repräsentativen und hochwertigen Business- und Freizeiträumen, die auf ehemaligen Hafenarealen entstehen (vgl. ebd.).
Die Kultur- und Literaturwissenschaftlerin Aleida Assmann benutzt die Metapher des Palimpsests, um die Koexistenz verschiedener historischer Schichten in einer Stadt zu verdeutlichen. In Abhängigkeit des jeweils herrschenden politischen Systems und Machtverhältnissen werden Zeitzeichen überschrieben gelöscht oder wieder hervorgeholt. Auch wenn alle Schichten gleichzeitig anwesend sind, werden diese nicht gleich stark wahrgenommen (vgl. Assmann 2014: 111f.). Hafenstädte sind jeher Knotenpunkte in globalen Handelsnetzwerken wie auch Orte der Migration und sind somit von diversen Überschreibungen übersät. Welche Geschichten werden erzählt und welche nicht?
Der Blick auf diese Überschreibungen erlaubt es, Hafen in seiner gewohnten Form anders zu denken. Beispielsweise bietet die Frage nach dem ‚Recht auf Hafen‘, die unter anderem von der geheimagentur in mehreren künstlerischen Forschungsprojekten gestellt wurde, einen neuen Zugang zum Verständnis von Hafen heute. Mit dem Hamburger Hafen als Ausgangspunkt stellte die geheimagentur fest, dass der Hafen heute ein geschlossenes, logistisches Zentrum bildet. Das Wasser ist der Hamburg Port Authority unterstellt, eine Behörde die entscheidet, ob und was dem Hafenzweck gilt und alles aus dem Hafen fernhält, was nicht relevant für die Hafenökonomie ist. Im Gegensatz zu dem historischen Hafen, der als öffentlicher Raum elementar in dem Leben der Hamburger*innen vertreten war, haben die Bürger*innen heute kaum Beziehung mehr zu ihm. Er findet als Imagination des tradierten nur noch als Spektakel mit Events, wie dem Hafengeburtstag Einzug in das Leben der Menschen (vgl. Peters 2019: 212, 219). Was aber ist los in diesem Hafen, der sich vor den Menschen verschließt? Hier gibt es nach eigener Logik ein Sicherheitsparadigma und Sonderzonen, es gibt logistische Betreiber, aber kaum Zivilgesellschaft (vgl. ebd.: 215). Über die Frage nach dem ‚Recht auf Hafen‘ wird Zugang zu dem Phänomen der Logistik gefunden. Der Hafen ist Teil eines globalen Systems des Tauschs. Logistik, als dessen unscheinbares Fundament, stellt die Bedingung des alltäglichen Zusammenlebens der Menschen dar, beispielsweise durch den Transport von Waren oder Ressourcen (vgl. ebd.: 214).
Mit künstlerisch-partizipativen Forschungsansätzen hat die geheimagentur die Frage, inwiefern Menschen Zugang zum Hafen haben, in den Fokus gerückt. Dabei zeigten sie auf, welche Bedeutung die Vernetzung der Welt, die der kapitalistischen Logik unterliegt, für den Ort des Wassers und seinem Verhältnis zum Menschen sowie für die Beziehung von Zivilgesellschaft und See hat.
Und was ist also an Stadtforschung für den Hafen relevant?
Der Einfluss des Hafens auf die Stadtentwicklung wurde aus wissenschaftlicher Perspektive vielfach betrachtet. Dabei lag der Fokus besonders auf wirtschaftsgeografischer und stadtplanerischer Perspektive. Die langfristigen räumlichen Veränderungen von Hafenstädten und ihre strategische Position im globalen Handelsnetz wurden auf der Makroebene betrachtet (vgl. Kokot 2008: 9f.). Ethnografische Stadtforschung bietet eine methodische Ergänzung, um komplexe Prozesse im Kleinen zu beobachten und damit den Einfluss von globalen Zusammenhängen auf lokale Gemeinschaften sichtbar zu machen. Akteur*innen und ihr alltägliches Handeln werden in den Fokus gesetzt. Durch die Betrachtung der lokalen Effekte bildet sich ein besseres Verständnis für globale Transformationsprozesse heraus (vgl. ebd.: 8, 16f.).
Ethnografische Feldforschung untersucht mit Wahrnehmungsspaziergängen, teilnehmender Beobachtung, Kartierungen, Interviews, Stadtfotografie oder künstlerischen Zugängen die Lebensrealität, Alltagsstrategien und -praktiken einzelner Akteur*innen und setzt diese ins Verhältnis zu globalen Prozessen. Auch wenn sich der Hafen heute aus der Stadt heraus verlagert, durch Technisierung als Hauptarbeitsort für Hamburg an Bedeutung verliert und sich den Menschen rechtlich und räumlich verschließt, ist und bleibt er ein identitätsstiftender Faktor verschiedener sozialer Gruppen. Das Potential eines ethnografischen Ansatzes ist es, diese Entwicklungen zu verstehen und durch Fragen, wie der nach dem ‚Recht auf Hafen‘, neue Perspektiven aus diesem Verstehen zu entwickeln.
Literatur:
Assmann, Aleida (2014): Geschichte im öffentlichen Raum: Architektur als Erinnerungsträger. In: Geschichte im Gedächtnis: von der individuellen Erfahrung zur öffentlichen Inszenierung. München. S. 96–135.
Eckardt, Frank/Hoerning, Johanna (2012): Postkoloniale Städte. In: Eckardt, Frank (Hg.): Handbuch Stadtsoziologie. Wiesbaden. S. 263-287.
Kokot, Waltraud (2008): Port Cities as Areas of Transition: Comparative ethnographic Research. In: Kokot, Waltraud et al. (Hg.): Port Cities as Areas of Transition: Ethnographic Perspectives. Bielefeld. S. 7-24.
Peters, Sybille (2019): Paralogistics: On People, Things and Oceans. In: Hildebrandt, Paula et al. (Hg.): Performing Citizenship. Bodies, Agencies, Limitations. S. 209-226.